Bericht von Fritz Miller
In den letzten Jahren haben wir viel Zeit an den Wänden und Graten des Zugspitzmassivs verbracht, wobei der Fokus meist aufs Winterbergsteigen in der zentralen Nordwand der Zugspitze gerichtet war. Ich habe keine andere Wand erlebt, in der das Winterklettern so fordernd ist wie hier: Der Kalk ist über weite Strecken brüchig oder vom sommerlichen Steinschlag derart geglättet, dass er kaum Halt bietet. Zuverlässige Sicherungen lassen sich nur schwierig anbringen – und dann sind da noch die Spindrifts, die sich so gerne über die Wand ergießen…
Trotz aller Widrigkeiten bietet die Nordwand der Zugspitze unzählige Möglichkeiten für Routen und Routenkombinationen und jede Menge Platz für neue Kreationen. Der Weg zur „Superdirekten Nordwand“, jener Linie, dies uns so lange vorschwebte, führte über Umwege. Eine wichtige Station war die Erstbegehung der „Direkten Nordwand“ im Spätherbst 2020. Teile der Wand waren zu diesem Zeitpunkt mit einer dünnen Schicht aus angefrorenem, recht festem Schnee überzogen, die es ermöglichte, glatte Felsplatten zu überwinden. In der ersten, überhängenden Wandstufe sowie in der Headwall kletterten wir im Grenzbereich des Möglichen und es ist wenig verwunderlich, dass die Route bisher nicht wiederholt werden konnte. Ende des Jahres 2020 kletterten Michaela und ich dann auf der Linie der „Superdirekten Nordwand“ bis zum einfacheren Mittelteil der Wand. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits ausgelaugt von vielen kalten und gefährlichen Tagen in den Wänden und irgendwann mental komplett am Ende.
Nach einer längeren Pause glückte uns Mitte März des Jahres 2022 wieder eine Aktion am Zugspitzmassiv: Ein Winter-Enchaînement von Zugspitze Nordwand und Jubiläumsgrat mit anschließender Überschreitung der Alpspitze, komplett ohne Bergbahnunterstützung und in nur 15 Stunden. Diese Tour festigte wieder den Glauben an die eigene Stärke und wir fühlten uns bereit für den nächsten Schritt. Eine Woche später stiegen wir erneut zur Wand auf, diesmal mit dem vollen Bigwall-Material für einen mehrtägigen Ausflug ins Ungewisse.
Projekt „Superdirekte Nordwand“ – es wird ernst…
Und so stehen wir wieder einmal am Einstieg der „Direkten Nordwand“, am oberen Ende des Bayerischen Schneekars, wo unser Projekt beginnt. Schon auf den ersten Seillängen zeigt sich, dass die Bedingungen nicht mit jenen zu vergleichen sind, die wir bei unseren letzten Versuchen vorfanden. Schnee und Eis haben sich in der ersten Wandstufe soweit zurückgebildet, dass manche Passagen recht einfach zu klettern sind. Doch wir erleben auch die Kehrseite, und in der Eisrinne der vierten Seillänge wird es zum ersten Mal brenzlig. Der Fels ist hier absolut glatt, vom Eis ist nicht mehr viel übrig und was noch da ist, verabschiedet sich in relevantem Maße unter den Schlägen meiner Eisgeräte. Nach 15 Metern Eiertanz ohne Möglichkeit der Zwischensicherung ist das Schlimmste geschafft und der Weg frei zur nächsten Wandstufe.
Nach elfstündiger Kletterei erreichen wir schließlich den Fuß des „Plattenpfeilers“, etwas oberhalb der Wandmitte. Im letzten Licht des Tages graben wir einen Biwakplatz in den Schnee, der sich hier Meterhoch angehäuft hat. Bald darauf wird es dunkel und wir verkriechen uns in die Schlafsäcke.
Am nächsten Morgen gehen wir den Plattenpfeiler an, vom untersten Ansatz in direkter Linie nach oben. Gut zweieinhalb Stunden kostet uns die erste Seillänge, inklusiv trickreicher Techno-Kletterei, oft an den Eisgeräten, die ich als gigantische Hooks in kleine Löcher oder Risse lege. Um die Mittagszeit sind wir dann unter der Headwall angelangt, dem heikelsten Abschnitt der ganzen Wand. Fünf Seillängen sind es jetzt nur noch und bisher lief alles rund, aber was hat das schon zu bedeuten.
Über gelb-braunen, brüchigen Fels führt die nächste Länge diagonal in die Headwall hinein. Ich schlage die Hauen der Eisgeräte häufig direkt in den Bruch, bis sie irgendwie klemmen, prüfe jeden Tritt, stütze mich vorsichtig nach oben. Wieder einmal hängt der Haulbag fest, weit abseits der Kletterlinie. Ich lasse den Haulbag ab und Michaela muss zurück bis ins darunterliegende Schneefeld, um ihn zu erreichen und in eine andere Bahn zu lenken. Die Zeit verrinnt. Plötzlich ist Nachmittag, und es wird langsam ungemütlich in der Wand.
Der große Plattenquergang der drittletzten Seillänge der „Direkten Nordwand“ erscheint bei den aktuellen Verhältnissen nicht machbar zu sein. Zu wenig und zu schwacher Schnee hier oben. Also entscheiden wir uns für eine andere Variante: von unten direkt in die große Platte hinein. Mir ist kalt, als ich in die nächste Seillänge einsteige. Die ersten Meter entlang eines kleinen Pfeilers gehen noch gut und lassen sich auch vernünftig absichern. Ich steige weiter nach links, auf der Suche nach kletterbaren Strukturen. Die Kletterei in der Platte wird immer haariger. Der Fels hat hier oben quasi keine Reibung mehr, gründlich geglättet durch was auch immer. Immerhin bringe ich noch einen Keil unter, und weiter oben einen halbwegs soliden Pecker, aber keine Ahnung, ob er einen Sturz halten würde. Ich clippe die Bandleiter in den Pecker, steige hoch bis in die oberste Stufe, suche die Felsoberfläche ab, kühle immer weiter aus. Mithilfe eines Hooks, den ich an einer Felsleiste ansetze, schaffe ich noch ein Stück. Nun würde es nur noch in freier Kletterei weitergehen. Sechs, sieben Meter über mir ein feiner Riss, doch ich sehe keine Chance, ihn zu erreichen.
Eine Mischung aus Vernunft und Verzweiflung lässt mich unsere Zielsetzung über Bord werfen und nach der offensichtlichen Lösung greifen: Ich bohre ein kleines Loch, legen einen Hook hinein, steige an der Trittleiter hoch, richte mich auf einer Leiste auf und setzte einen Bohrhaken. Klar, wir haben an den Standplätzen oft genug gebohrt, doch diese beiden Bohrlöcher ändern alles. Zunächst einmal komme ich weiter, erreiche den feinen Riss, das darüberliegende Schneefeld, den großen Plattenquergang der „Direkten Nordwand“, das alles ohne das Risiko eines tödlichen Vorstiegssturzes. Unerreichbar hingegen ist jetzt unser Ziel, diese Route gänzlich ohne gebohrte Zwischensicherungen zu schaffen.
Beim Durchstieg der „Direkten Nordwand“ kletterten wir am Ende fünf Stunden im Dunklen, fast die gesamte Headwall. Nun sind es zum Glück nur die letzten beiden Seillängen bis zur Scharte zwischen Ost- und Hauptgipfel. Ein letzter steiler, vereister Riss, dann das Ausstiegscouloir. Nur noch 30 Meter. Die Kletterei könnte bei ausreichend festem Schnee so einfach sein. Stattdessen klettere ich Zug um Zug am beängstigend brüchigen Fels dieser üblen, kaum absicherbaren Rinne. Wahrscheinlich habe ich meine Klettertechnik im verschneiten, brüchigen Fels während der vielen Winterbegehungen der letzten 15 Jahre perfektioniert. Vielleicht sind es genau diese Situationen, in denen ich am besten funktioniere. Aber reicht das, um dieses Spiel zu kontrollieren?
Körperlich und mental leer erreiche ich schließlich die Metalleiter am letzten Aufschwung vor dem Gipfel. So wichtig mir diese Route war, so sehr beschäftigt mich die Frage, was wir hier geschaffen haben. Hat es irgendeinen Wert? Ist diese Route ein Statement, das ich unterschreiben würde?
In meiner Wahrnehmung erzählt jede Route eine Geschichte und transportiert eine Botschaft. Die Botschaft dieser Route (aus meiner Sicht): ein Bekenntnis zum Alpinismus und zur Akzeptanz des Makels – und im weiteren Sinne zu jener inneren Zerrissenheit, die so viele teilen, die dieses Leben leben.
Nun stehen wir am Gipfel und ich denke an meinen jungen Freund, dem ich diese Route widmen wollte, mit dem Gefühl, dass es kein passendes Geschenk wäre.
Text: Fritz Miller, April 2022
Die genauen Routeninfos findet ihr hier: Superdirekte Nordwand - Zugspitze
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