Guido Unterwurzacher in der "Kerze" Guido Unterwurzacher in der "Kerze"
05 November 2013

Frozen Ralley - Pinnistal

Der "wahnwitzige" Plan von Guido Unterwurzacher und Christian Hechenberger 8 Wasserfälle an einem Tag zu klettern...

FROZEN RALLYE

Nicht bei jeder winterlichen Rallye kommen Spikes und Pferdestärken zum Einsatz. Manchmal müssen Pickel und Muskelkraft herhalten. Gleich bleiben allerdings Etappen und Sonderprüfungen. Diese galt es auch für Guido Unterwurzacher und Christian Hechenberger zu absolvieren. Mit dem körpereigenen Drehzahlmesser im roten Bereich ...

Etappe #1: PROLOG
Januar 2010. Guido Unterwurzacher und Christian „Hechei“ Hechenberger pilgern zum ersten Mal ins Pinnistal, jenes Eisklettermekka, das ihren Hunger nach gediegenen Linien stillen sollte. Immerhin, hier wurde Eisklettergeschichte geschrieben. Die Tiroler Kletterlegende Andi Orgler machte die im Stubai gelegene Pinnisalm mit Begehungen wie „Männer ohne Nerven“ (WI 5+ bzw. 6/1985) oder „Metamorphose“ (WI 7/1991) über die engen Talgrenzen hinaus bekannt. Andi hängte die Pickel  höher und etablierte damals einige der schwersten Eisrouten  Tirols. Aber nicht nur die Extremklassiker, sondern auch die große  Auswahl an Möglichkeiten machen die Pinnisalm zum Hotspot für Freunde des gefrorenen Wassers. Rund ein Dutzend Klettergebiete stehen zur Auswahl. Zudem herrschen durch die Höhe (1.700 m) und die schattige Lage oft schon im Frühwinter sehr gute Eisverhältnisse.

Es lag also auf der kalten Hand, dass Guido und Christian dieser erlesenen Auswahl an feinsten Fällen nicht die kalte Schulter zeigen wollten. Im Gegenteil - Guido: „Damals wollten wir schon möglichst viele Eismeter machen,  an einem Tag versteht sich. Nach vier Wasserfällen war aber Schluss. Wir waren mehr als zufrieden mit unserer Ausbeute. Jedoch redeten wir schon damals darüber, dass es genial wäre, alle gewachsenen Wasserfälle, das  heißt alle Wasserfälle, die zum Zeitpunkt des Aufenthalts möglich und kletter- bar sind, an nur einem Tag zu machen. Im Idealfall wären das zehn Stück.“

Wer schon einmal Eisklettern war, weiß: Das ist nur etwas für die ganz Guten,  für die ganz Harten – oder für die Übermotivierten – je nachdem. Denn Eisklettern ist diffizil, anstrengend und wie keine andere Kletterei von den äußeren Bedingungen abhängig. Weil Eis ist nicht gleich Eis. Vielleicht ist es ein Mythos, dass die Inuit mehr als 30 Wörter für Schnee haben. Fakt ist, dass der Eiskletterer mindestens  ebenso viele Zustände von Eis kennt. Von spröde bis hart, von weich bis  brüchig – inklusive aller Zwischenstufen, Zwischenschattierungen und Nuancen,  die nur jemand kennt, der regelmäßig mit dem Eis tanzt. Dazu dürfen wir  Guido und Christian sicher zählen. Ein großer Plan, ein großartiger Plan.
Der Startschuss für die Eisrallye war gefallen, der Prolog absolviert …

Etappe #2: die Idylle trügt
Vom Neustifter Ortsteil Neder aus, schlängelt sich die vielleicht schönste, sicher aber die längste Naturrodelbahn  Tirols hinauf ins Pinnistal. Nur: Wenn eine Rodelbahn lang bergab geht, geht sie vorher auch lange bergauf. Suboptimal, wenn die Kondition der Motivation  hinterherhinkt. Da hilft es wenig, wenn das gesamte Material auf dem  Schlitten nachgezogen wird. Oder auf der Rodel. Oder auf der «Becke», wie es Guido in seinem Tiroler Dialekt bezeichnet. Welches Wort auch immer für jene geniale Erfindung verwendet wird, die uns auf zwei Kufen und mit einem hohen Spaßfaktor ins Tal zurückbringen wird. Am Beginn der Etappe musste Guido einem grippalen Infekt, der ihn einige Zeit flachliegen hat lassen, den gebührenden Tribut zollen. O-Ton: „Ist schon mal weniger anstrengend gewesen der lange Zustiegs-Anmarsch.“

Auf der Pinnisalm angekommen, galt es zuerst die Bedingungen  abzuchecken: „Bis auf zwei Ausnahmen schaut es nicht schlecht aus. Der Wasserfall namens „Gully“ ist abgerissen  und somit nicht machbar. Der „Magier“ ist hingegen nicht zusammengewachsen, alle anderen Eislinien stehen  aber super da.“

Das Eis – die bewegliche Materie.
Fest gefroren ist nur unsere Meinung über Eis als vermeintlich erstarrte Form von Wasser. Denn Eis ist extrem lebendig, es bewegt sich, es baut sich auf, es bricht zusammen, es wächst, es schrumpft, es ist spannungsgeladen, es entlädt seine Spannung, es brummt, es ächzt, es singt. Gerade beim Eisklettern muss man mit und nicht gegen die Bedingungen arbeiten.  Aber 10 minus 2 macht immer noch 8 feine Linien, allen voran „Männer ohne Nerven“. Dieser 120 m hohe Eisfall zählte vor 20 Jahren noch zu den schwersten Eis-touren Tirols und ist seinem Ruf entsprechend begehrt, d.h. es befand sich bereits eine Seilschaft in der Tour. Umdenken  war angesagt: „Wenn man die ganzen Wasserfälle an einem  Tag machen will, muss es also wie am Schnürchen laufen. Und genau das tut es heute gar nicht. Wir starten daher in den  „Vorhang“, WI 5. Ich klettere los und merke bald was Sache ist. Das Eis ist spröde, ich klettere unrund, finde keinen Rhythmus, die Eisqualität wird immer bescheidener und somit lässt sich das Ganze nicht gut absichern. Wir wissen beide, wenn’s so weitergeht, können wir das Ganze gleich abbrechen. Tun wir aber nicht.“

Denn „alles oder nichts“ ist die Devise. Die Rallye lässt gleich einmal bei der zweiten Etappe ihre Muskeln spielen, sprich Guido und Christian  müssen „zurückmuskeln“. Und solange sich noch genug Energie im Körper befindet, gilt es die harten Teile abzuhaken, wie die wahrscheinlich beste Eislinie Tirols, die „Kerze“. Diese perfekte, steile und wunderschöne Eissäule,  die mit WI 6 am oberen Ende der Schwierigkeitsskala angesiedelt ist: „Hechei pickelt sich schnell die erste Seillänge rauf. Dann erwartet mich die steile, schwere nächste Seillänge. Das Eis ist zum Glück besser, aber auch steiler und so kämpfe ich mich Meter um Meter höher. Meine Arme werden immer dicker, bis ich mich kaum mehr an den Eisgeräten festhalten kann. Mit letzter Kraft rette ich mich zum Stand. So einen Pump hatte ich schon lange nicht mehr. Ich bin völlig erledigt und das schon nach dem zweiten Wasserfall.“

Pump bezieht sich auf ausgepumpt. Man könnte auch sagen – Akkus leer, Strom  vorbei, Kraft ade. Das ist Eisklettern. Das Eis saugt dich aus, weil es wenige Bewegungen gibt, die nicht sehr anstrengend sind. Und jene, die nicht sehr anstrengend sind, sind anstrengend. Darunter gibt’s fast nichts. Langsam dämmert den beiden die selbst auferlegte Dimension ihrer Eisrallye. Und es wird Zeit für die erste Sonderprüfung ...

Sonderprüfung #1: EISZEIT
Nach der „Kerze“ geht es in die „Rumpelkammer“, die ihren Namen ihrem engen  Kamin verdankt, in dem das vom Vorsteiger weggepickelte Eis gerne dem Nachsteiger auf den Kopf rumpelt. Die 50 Meter Eis sind dank beinahe simultanem Klettern schnell erledigt. Und dann, die „Eiszeit“: „Ich bin dran, leider. Ich klettere los und prompt ist der Pump wieder da. Es fühlt sich so an,  als würden die Unterarme gleich platzen. Ich klettere wie der erste Mensch, kann mich nicht mehr konzentrieren, auch der Kopf will nicht mehr. Hechei nimmt die zweite Seillänge in Angriff und am Ausstieg  ist uns klar – das wars –es geht nicht mehr. Bevor es zu gefährlich wird, schmeißen wir lieber den Helm drauf. Vielleicht haben wir  uns mit dem Ziel übernommen, es unterschätzt und vielleicht gehts ja gar nicht …

… Hechei ist sich nun auch  nicht mehr sicher, ob uns die Nummer nicht doch ein wenig zu groß ist. Ich fühle mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Wir setzen uns auf die  «Becke» und machen uns an den lustigeren Teil des Tages, das Runterrodeln zu den Autos.“

Erschöpft im Eis zu klettern, ist wie mit Vollgas und 300 PS auf Glatteis zu fahren – mit Sommerreifen – wohlgemerkt. Keine Kontrolle, kein Grip, keine Aussicht  auf Erfolg. Fazit: Back to the start!

Etappe #3: ALLES OHNE NICHTS
Zurück am Start und trotzdem Etappe #3?
Ja, weil manchmal der Prozess zählt und jede ernstzunehmende Rallye ein unvorhersehbares Abenteuer ist. Im ersten Anlauf war alles da: Motivation, Geschwindigkeit, Taktik. Nur die Power fehlte. Eine Woche später sieht die Situation wie folgt aus: „Endlich fühle ich mich gesund und fit und fühle mich vom Kopf her wieder stark und der Sache gewachsen. Hechei und ich treffen  uns um 4:30 Uhr in der Früh in St. Johann und stehen um 8:00 Uhr  am Einstieg von „Männer ohne Nerven“. Ich hab ein gutes Bauchgefühl, auch Hechei ist voll motiviert. Wir legen los. Ich mache die erste, leichtere Seillänge. Hechei klettert die nächste und schwierigere Länge ohne Probleme.  Ich komme nach. Es läuft. Die dritte Seillänge laufen wir beinahe hinauf.  Geschafft! Und über den Wasserfall wieder abseilen.“ Ein wichtiger Start.

„Männer ohne Nerven“ ist je nach Einstieg mit der Schwierigkeit WI 6 ein  harter Brocken. Jede Rallye braucht ihre Strategie. Und das Harte gleich  einmal zuerst zu erledigen, sollte sich als Schlüssel zum Erfolg erweisen:  „Wir laufen zum ‘Vorhang‘ WI 5-. Diesmal ist das Eis viel besser, viel weicher und so komme ich schnell voran. Ich klettere das gesamte Seil aus, dann  kommt Hechei nach. Was, schon oben? Jawohl! Wir seilen uns wieder ab und sehen, dass die ‘Kerze‘ und die ‘Rumpelkammer‘ besetzt sind.“

Der dritte Wasserfall, die „Eiszeit“, ist jener Wasserfall, an dem der letzte  Anlauf gescheitert ist. Er wird zügig erledigt. Selbst der hüfthohe Schnee, durch den die beiden beim Weg zum oberen Sektor stapfen müssen, stellt kein Problem dar. Es wartet das „Chamäleon“ - mit der Schwierigkeit WI 5- fast eine Regenerationsrunde. Alles geht plötzlich, nichts ist unmöglich. Nein, heute stellt sich nicht die Alles-oder nichts-Frage. Heute passiert alles.Ohne nichts. 

Denn der Flow ist da, jener wichtige Flow, den ein solch dickes Projekt einfach braucht. Flow, jener Zustand, in dem die Dinge von selber geschehen. Der Flow spart Kraft und Energie, konserviert die Motivation und in der Motivation steckt schließlich das Motiv – das Motiv, so viele Eisfälle, wie nur irgendwie möglich, an einem Tag zu klettern.

„Wir sind voll im Fluss, alles läuft wie geschmiert. Es geht munter weiter zum ‚Familien Sonntag‘, mit WI 4 die leichteste Kletterei heute. Hechei klettert los und ich folge ihm, sobald das Seil ausgeklettert ist. Wir klettern gleichzeitig. Am Ausstieg freuen wir uns aufs Abseilen, auf unsere Trinkflaschen, auf etwas zum Essen. Dann kommt die ‘Kerze‘ dran.“

Sonderprüfung #2: FEIN, ABER SICHER NICHT KLEIN
Die „Kerze“ ist schön, aber schwer. Und hat dem letzten Anlauf zum  Scheitern gebracht. Nur: „Diesmal läuft es echt super und ich hatte bei Weitem nicht so einen grausigen Pump wie vor nicht einmal einer Woche. Hechei folgt und wir grinsen uns das erste Mal gegenseitig an. Wir wissen  beide, dass die Chancen gut stehen, auch noch die letzten beiden Wasserfälle schaffen zu können. Die ‚Rumpelkammer‘ wird wie beim letzten Mal durchrannt und zum Schluss sollte noch ein intensiver Kampf folgen.“

Wir schalten bei dieser Rallye kurz einmal einen Gang herunter. Und reüssieren. Sieben Wasserfälle stecken den Jungs bereits in den Knochen. Zwei davon mit  der Schwierigkeit WI 6. Das WI steht für Water Ice, also reiner Eiskletterei ohne Felskontakt. Die Ziffer bezeichnet die Schwierigkeit. Schwierigkeit 6 bedeutet: Eine anhaltend anstrengende und steile Seillänge mit sehr wenigen Ruhe- punkten. Das Eis ist nicht homogen (z.B. Röhreneis), die Zwischensicherungen sind unzuverlässig. Ein technisch sehr hohes Niveau ist unbedingt nötig. Da-rüber gibt es nur noch eine Stufe 7. Vor dem letzten Wasserfall haben Guido und Christian bereits zwei Fälle mit der Schwierigkeit WI 6 bezwungen. Für den Durchschnittskletterer würde ein einziger Wasserfall reichen, um als Winterhighlight in den Tourenbüchern Einzug zu finden. Von der daraufhin notwendigen Regenerationswoche ganz zu schweigen.

„Klein aber fein“, WI 6-, nennt sich das letzte Projekt. Es ist klein, aber sicher nicht fein: „Unten wartet eine dünne Eisglasur. Dafür ist es oben ziemlich steil. Ich starte los, bin voll entschlossen, aber die Akkus fangen an zu blinken. Egal, jetzt heißt’s nochmal kämpfen und vertrauen, dass die Geräte halten und die Kraft nicht ausgeht. Ich rette mich über die steile Passage, am Stand dann der erleichternde Schrei. Hechei kommt nach, wir schlagen die Hände so  fest zusammen, dass es laut klatscht und sind mehr als zufrieden mit  unserer heutigen Ausbeute.“

War das Absicht? War es bewusst inszenierte Ironie? „Klein aber fein“ war die letzte Tour dieser Eistortur, die fein, aber sicher nicht klein war. Denn acht Eistouren in einem Tag, die leichteste davon in einem Schwierigkeitsgrad, der für den Durchschnitt immer noch als schwer bewertet werden kann, das ist Paris-Dakar mit Pickeln und Eisschrauben. Das ist eine Rallye, die alles  hat, was eine gute Rallye braucht: Herausforderung, Abenteuer,  Nervenkitzel, einen Schuss Wahnsinn, einen Schuss Glück. Nach der legendären Pionierarbeit von Andi Orgler hängen die Pickel im Pinnistal nun wieder ein Stück höher. Ob es noch höher geht, wird sich nächsten Winter weisen. Denn das logische Ziel lautet: Alle zehn!


EISBEUTE DER JUNGS

„Männer ohne Nerven“ WI 6
„Vorhang“ WI 4+
„Eiszeit“ WI 5-
„Chamäleon“ WI 5-
„Familien Sonntag“ WI 4
„Kerze“ WI 6
„Rumpelkammer“ WI 5-
„Klein aber fein“ WI 6

Webtipp:

www.adidas.com/outdoor

www.rocknrollmountainguides.at

Video: Frozen Ralley (2:35min)



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