Im unteren Teil der Route Im unteren Teil der Route
12 April 2013

Bayerisch-Chamonix

Ralf Sussmann eröffnet gewaltigen Mixedclimb in den Ammergauern

Am Neujahrsmorgen als noch alle schlafen, schleiche ich mich aus unserem Häuschen am Murnauer Moos auf Skitour. Mehr Gewohnheit als Entscheidung, das Auto lenkt in Richtung Ammergauer Alpen, wo wir letztes Jahr die mittlerweile beliebte Mixed-Route „Bayerisch-Schottische Wintergames“ eröffnet hatten. Hinter Schloss Linderhof sieht man zwischen den Bäumen hindurch vom Auto aus all die unberührten Ammergauer Nordwände.

Plötzlich bin ich hellwach: Kurz nach den beiden Kehren vor der Ammerwaldalm zeigt sich durch eine Waldlücke eine gewaltige Wand, die mir noch nie zuvor aufgefallen war: Die Nordwand des Geierköpfe-Hauptgipfels. Man sieht die Wand von der Straße aus nur für einen Augenblick, aber der Gipfel thront in westalpiner Dimension 1100 m über der Straße. Und die steilste und kompakteste Wandzone ist genau in Gipfelfalllinie!

Wenige später erfahre ich von meinem bewährten Partner Michi Warscher, dass er für Erstbegehungsaktionen viele Wochen ausfallen wird, wegen einer frischen Knieverletzung vom Skifahren. Ein weiterer Mitstreiter vom letzten Winter, Andi Wunsch muss Konditionstouren abspulen, er will die Eigerwand im März machen. Und der starke Felskletterer Andi Reichert, der tatkräftig in unserer Laliderer-Neutour dabei war letzten Sommer, will sich im Winter lieber auf seine Doktorarbeit konzentrieren. Stimmt schon, tagelanges Hängen in Nordwänden bringt die Wissenschaft nur mittelbar weiter.

Über den Januar- und Februarwochen vergesse ich im hektischen Forschungsbetrieb das Alpin-Projekt, bis die Mail von Michi aufscheint: „Knie unerwartet schnell geheilt, bin einsatzbereit.“

Das nächste Wetterfenster kommt Anfang März. Also Schneeschuhe geliehen und am Freitagmittag die 700-Höhenmeter-Rinne zum Wandfuß hoch gespurt. Was für eine komische Fortbewegungsart, aber für Ski ist die Rinne oben zu eng. Gottseidank wird bald zwangsweise auf Steigeisen gewechselt, es folgt amüsante WI 2-Eisbachkletterei. Einmal bricht mein Bein knietief ein, nasse Füße. Dazu hatte ich die Handschuhe vergessen und es ist arktisch kalt heute, aber nach ca. 3 Stunden ist die Spur zum Einstieg hochgelegt. Wild-alpines Gelände in totaler Einsamkeit.

Schnell noch ein Einstiegsbolt gebohrt und 30 Haken und das Eisgerät hinterlegt. Am Montag geht´s zusammen mit Michi dann bei bestem Wetter um 4:30 in der klaren Winternacht die gespurte Rinne hoch. Das eisgefüllte Zustiegscouloir zwischen Felsen, das Funkeln der Schneekristalle im Schein der Stirnlampen, oben der Schatten der großen Nordwand: Diese

Eindrücke verwischen im Halbschlaf mit Erinnerungsfetzen an den Zustieg zu den Grandes Jorasses.

Mit dem ersten Licht wird im Einstiegscouloir gewerkelt. Bestes, 2 cm dickes Softeis auf kompaktem Fels. Für Eisschrauben zu dünn, aber perfekt zum Bohren. Es folgen Spindrifts, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Das Couloir ist augenblicklich komplett mit einem undurchsichtigen Staubvorhang gefüllt. Das wiederholt sich alle 5-10 Minuten und dauert jeweils einige Minuten an. Einmal stehe ich mehrere Meter über der letzen Sicherung im senkrechten Eis und klettere einfach mit geschlossenen Augen weiter – da kommt der heikle Ausstieg in den flacheren Pulverschnee – ich öffne versuchsweise die Augen und Gott sei Dank taucht mein Kopf in dem Augenblick aus der Spindrift auf. Am Nachmittag sind 6 abwechslungsreiche Seillängen vollbracht und wir seilen zufrieden ab.

Beim nächsten Tages-Einsatz herrscht grimmige Kälte, unter -20 Grad. Die letzten 20 Meter zum Einstieg liegt der Triebschnee brusttief. Unglaublich wie Michi gleich darauf mit dem 20 kg Rucksack die senkrechten Mixed-Längen nachsteigt, geschickt mit seinen bananenartigen „Ergos“ spielt. Meine gummierten Winter-Gartenhandschuhe vom Baumarkt sind ideal zum Mixed-Klettern, aber heute einfach viel zu kalt. Außerdem habe ich keine Daunenjacke wie Michi und das Warten am Stand zehrt gewaltsam an den Reserven.

Trotzdem entstehen heute 4 neue Längen in anhaltenden steilem und anspruchsvollem Gelände. Senkrechte Felspassagen mit angeklebtem 2 cm-Pressschnee, in dem die Eisen und Tools gerade eben so halten, wechseln mit Eis- und Trockenpassagen ab. Und es gibt einen Lauf-oder-Flieg-Frontzackentanz über eine steile überzuckerte Reibungsplatte (meine geheime Leidenschaft aus alten Zeiten).

Erstaunlich, wie gut das Bohren aus den fixierten Eisgeräten heraus immer wieder geht. Zweimal bricht das Gerät aus, an dem ich im Gurt hänge, kurz bevor ich den Bohrer ansetze, aber es fängt sich jeweils unterhalb wie durch ein Wunder von selbst in einem neuen Fels-Placement. Besonders faszinierend ist es, wenn man das Gerät in kleine Felswinkel, gefüllt mit wenigen Millimetern an Wassereis vorsichtig anklopft. Man sieht dann die komplette Hauenspitze bis zu ihrem Felskontakt durch das transparente Eis von unten – schon verwunderlich, wie solche Placements das Körpergewicht tragen können.

Das Abseilen wird bei mir heute ein klein wenig zum Kampf gegen die einsetzende Trägheit durch die Kälte und die vereisten Knoten. Doch irgendwann sind wir unten und der Abstieg durch das Couloir in der eisigen Winternacht wird zum Fest, weil wir durch die willkommene Dauerbelastung am Ende des Tages ganz langsam wieder warm werden.

Es ist Mitte März geworden und der dritte Arbeitstag naht - mit Hoffnung auf den gesamten Durchstieg! Michi sagt ab wegen Erkältung, ja der gute Mann hat noch zwei kleine Kinder daheim … Dafür ist Andi aus der wissenschaftlichen Winterklausur aufgetaucht. Treffzeitpunkt ist diesmal 2 Uhr nachts.

Die Tage sind von Mal zu Mal länger geworden und die Temperaturen liegen heute nur moderat unter dem Gefrierpunkt. Die neue Daunenjacke bleibt im Auto. Wir haben 9 lange Seillängen zum Umkehrpunkt zu klettern mit all dem Gepäck, 3 Akkus, 30 Bolts. Ich nehme im Vorstieg einen kleinen Rucksack mit ca. 6 kg, Andi hat das 20 kg-Teil am Rücken.

Die Schneelängen gehe ich mit leichtem Rucksack am kurzen Seil hinterher, Andi spurt trotz schwerem Rucksack flott voraus. Ich habe nicht mal Gewissensbisse, schließlich war gerade mein 49. Geburtstag und dieser junge Wilde ist gerade mal gut halb so alt. Wieder im senkrechten Vorstiegsgelände kann ich trotz des kleinen Rucksacks nicht widerstehen und klettere Teile der Route rotpunkt. Eigentlich wäre es besser die Kräfte fürs Bohren zu sparen, oben im Neuland, aber wenn man eine Stelle nun schon zum dritten Mal klettert wird´s sonst langweilig.

Am Ende der ersten schweren Mixed-Seillänge (Sl 4) rutscht ein Gerät im Pressschnee, das andere folgt nach und schon segle ich 4 Meter im Freiflug. Gott sei Dank beide Eisgeräte reflexartig fest in der Hand behalten. In der 8. Länge komme ich kurz ins Stocken, bin erstaunt wie weit oben erst der nächste Haken blitzt. Ich versuche mich verunsichert an der wackligen Plattenstelle technisch mit der Trittleiter, eingehängt im Eisgerät, das prompt ausbricht. Unkontrolliert wie ein Weberknecht trudle ich einige Meter weit nach unten.

Leiter, 2 Eisgeräte, alles schwirrt lustig durcheinander. Zappelnd und sortierend vernehme ich den Kommentar: „Des hat aber ned funktioniert!“ Also nochmals über die Stelle hoch, unterwegs schnell einen Cam 0.3 auf 2 Segmenten irgendwo hineingedrückt. Als ich etwas flattrig den Bolt klinke, sehe ich 2 m tiefer einen weiteren Bolt, nicht einmal vom Schnee verdeckt. Den hatte ich wiederholt übersehen, dabei hatte ich die Passage doch selbst vor wenigen Tagen eingebohrt!

Nicht zum ersten Mal habe ich den Eindruck, dass sich die Denkvorgänge verlangsamen und Fehlleistungen häufen, wenn am Standplatz die Körperwärme unter Normaltemperatur sinkt. Zu Beginn der 9. Länge erinnert mich eine Stelle an die Dry-Tooling-Gebrauchsanweisung meiner „X-Monsters“: „Optional kann das Gerät verkehrt herum mit dem Hammerkopf in Rissen verkeilt werden.“ Das funktioniert ganz gut bis auf die Tatsache, dass dann die Haue in Richtung Gesicht zeigt. Das Risiko wird vertretbar, wenn man Kopf und Hals seitlich an der Hauenspitze vorbei nach oben schiebt, so rede ich´s mir ein ...

Der Rest für heute ist nur Spaß: Es folgt ein sehr luftiges, dabei vergleichsweise leichtes aber heikles Band („Eiger - Götterquergang“). Der letzte Aufschwung bietet nochmals interessante Mixed-Kletterei durch ein Fels-Couloir, eine sehr steile Schneepassage über senkrechtem Abbruch und einen Kamin. Einmal zieht es mir beide Füße gleichzeitig weg. Beide Geräte, nur blind hinter Pulverschnee an kleinen Felsleisten gehookt, halten wie durch ein Wunder.

Im Kamin bricht der 2er Cam an dem ich zum Bohren hänge, weil er nur auf zwei Segmenten im Eis auflag, aber eines der Eisgeräte in der linken Kaminwand hält den beginnenden Sturz an der Fixierungsleine. Das Mixed-Klettern bietet mehr Redundanz als man denkt und man entwickelt mit der Zeit eine Art fatalistischer innerer Sicherheit.

Mit einer Querung und einem Felsgrat sind wir am Ausstieg, dann geht es seilfrei zum nahen Gipfel: Mit Kreuz und Kassette, das hatten wir nicht erwartet, wie nennen wir nur die Tour? Wir sind uns einig: „Bayerisch-Chamonix“! Nach 3 schattigen Arbeitstagen genießen wir eine Weile die wärmende Spätwintersonne und ihr helles gelbes Licht.

Weniger verlockend ist die Aussicht, dass wir heute noch viele hundert Meter wieder hinunter müssen in diesen dunkelblauen Kühlschrank. Das Abseilen geht aber problemlos wie eigentlich immer im Winter: Es fliegen keine Steine und das Seil verhakt sich weniger als im Sommer.

Unten beim Materialsortieren kann ich kaum mehr die Karabiner öffnen. Ein empfindlicher

Überlastungsschmerz liegt auf der gesamten linken Hand – im Vorstieg spürt man so etwas nicht, und an den Standplätzen tagsüber fast verdrängt.

Erstaunt realisiere ich auch ein hörbares Knirschen der Sehnenscheide beim Öffnen und Schließen der Hand. Naja, mit der Schmierung der Mechanik scheint es in meinem Alter auch nicht mehr zum Besten bestellt zu sein, zumindest bei der Kälte. Das ist für den Abstieg fast egal aber in den kommenden Tagen wartet damit eine neue Herausforderung: Cello zu spielen in den Orchesterproben für ein österliches Passionsspiel...

Tourdaten:

Geierköpfe-Hauptgipfel (2161 m), Ammergauer Alpen - Nordwand

„Bayerisch-Chamonix“

Kletterstrecke: 13 Seillängen (Wandhöhe 450 m, Kletterlänge 600 m).

Schwierigkeit/Bewertungsvorschlag: Passagen M7, überwiegend M6, eine Sl WI 4+, Schnee bis 55°.

Erstbegehung: Ralf Sussmann, Michael Warscher, Andreas Reichert in 3 Tagen im März 2013. Die Erschließung erfolgte durchgehend im Vorstieg von unten, ohne vorheriges Erkunden von oben und ohne Verwendung von Fixseilen.

Charakter: Sehr schöne und exponierte Mixedkletterei in Direktlinie durch eine eindrucksvoll hohe Wand. Gleich am Einstieg wartet eine Couloir-Eislänge im Chamonix-Stil vom Feinsten. Große Tagesunternehmung in völlig abgeschiedenem alpinem Umfeld mit Anforderungen an Kondition und Erfahrung im Winterbergsteigen.

Verhältnisse: Kletterei an Eis, Pressschnee und Felsleisten im steten Wechsel. Hohe Schnee- und gute Eislage vorteilhaft. Wegen der Steilheit der schweren Mixed-Passagen stören aber auch mittelgroße Pulver-Neuschneemengen die Kletterei vergleichsweise wenig, allenfalls der Zustieg wird dadurch mühsamer. Das steile und enge Zustiegscouloir ist relativ lawinensicher (schattseitig), sollte aber dennoch nur bis Lawinenwarnstufe 2 begangen werden.

Zustieg: Spurarbeit erforderlich, 2-3 Stunden je nach Verhältnissen. Auf der Straße von Ettal zum Plansee bis ca. 2 km hinter der Doppelkehre, d.h. ca. 3 km vor der „Ammerwaldalm“; an der Straße parken (1100 m ü. NN). Von der Straße aus blickt man direkt in die Hauptgipfel-Nordwand, von der eine scharf eingeschnittene, NNO-gerichtete Steilrinne zur Straße herabzieht, die sich erst ganz unten verbreitert. Mit Tourenski oder Schneeschuhen ca.500 Längenmeter und 100 hm flach bis zum Ansatz der engen und eisgefüllten Rinne (Skidepot). Weiterweg mit Steigeisen immer in der Rinne, teilweise in leichter Eisfallkletterei (WI 2). Zuletzt 200 hm durch das flache Hochkar direkt zum Wandfuß (700 hm). An dem vorgelagerten Turm links (oder rechts) vorbei bis zum E. am obersten Felswinkel bei einem auffallend orangegefärbten Felsausbruch (BH mit Markierungsschlinge links).

Abstieg: Abseilen über die Route. Die Sl. 5. und 6. können auf einmal abgeseilt werden, ebenso die Sl. 7.-9.

Ernsthaftigkeit und Absicherung: Durchgebohrt bei obligat zu kletternden Schwierigkeiten und sehr weiten Hakenabständen in den leichteren Passagen. Der Anspruch hinsichtlich Länge, Schwierigkeiten und Absicherung ist um ein Vielfaches höher als bei der benachbarten Mixed-Route „Bayerisch-Schottische Wintergames“.

Material: 10 Express, 60 m Doppelseil, Steigeisen, Eisgeräte. Zur Reserve, d.h. falls fixe Sicherungen unter dem Schnee verborgen bleiben, ist ein kleines Hakensortiment empfehlenswert sowie evtl. einige kleine und mittlere Cam´s.

Topo & Wandbild: mehr

Bewertungsvorschlag von Wiederholer Stefan Biggel:

1. SL: WI4/M4/60m

2.+ 3. SL: 45°/100m

4.+ 5. SL: M6/60m

6. SL M6- / 35m

7. SL M6 / 25m

8. SL M7- / 25m

9. SL M7- / 25m

10. SL M4 / 55m

11. SL M4 / 55m

12. SL M5 / 45m

13. SL M3 / 50m

Stefan Biggel: "Das ist hier im Gäu die momentan beste Tour in diesem Stil in wirklich großartigem Ambiente, großes Lob und vielen Dank."

Webtipp: Nordalpenklettern



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