12 November 2013

Der Biancograt im Winter

Die Challenge bestand darin, den Biancograt im Winter zu begehen und eine der schönsten Touren in den Alpen ganz für sich alleine zu haben ...

Schwerer als man denkt - der Biancograt im Winter

Die Challenge bestand darin, den Biancograt im Winter zu machen. Im echten, nicht im meteorologischen. Eine der schönsten Touren in den Alpen ganz für sich alleine zu haben, ist ein Wunsch den viele hegen, sich aber nur die Allerwenigsten erfüllen können. Dabei wäre die Strategie für den Biancograt doch ganz einfach: Hingehen, wenn niemand anderer dort ist. Toni Moßhammer und David Kreiner haben genau das getan.

Die Crux mit der Superlative

Wechten sind fixe Bestandteile einer Gratwanderung im hochalpinen Raum. Das ist auch im Fall des Biancograts nicht anders. Im  Unterschied zu vielen anderen, weit weniger populären Graten erhält der „Bianco“ seine Form jedoch nur in physischer Hinsicht aus Schnee, Firn und Eis. In der Vorstellung wird seine Gestalt nämlich zusätzlich von Superlativen aller Art geformt. Und sie brechen, ebenso wie die Wechten, oft ungefragt über einen herein:

„Die ästhetischste Tour der Alpen!“, „Eine Skulptur aus Firn und Fels!“, „A magic Bilderbuch-Line“,
„Ein Grat von Gottes Hand!“, „Gehört in  jedes Tourenbuch!“, „Himmelsleiter in Weiß“,
„Ein Bergmarathon der Superklasse!“.

Superlative gehören zur Natur des menschlichen Urteilsvermögens. Dass Superlative auch vor Bergen nicht haltmachen und seit den  Zeiten romantischer Alpinliteratur fix mit ihnen verbunden sind, ist auch nichts Neues. Schließlich gibt es kaum Bilder, die die Erhabenheit der Naturästhetik besser verkörpern als ein schroffer Gipfel, der von gigantischen Wolkengebilden umtost wird oder die absorbierende  Finsternis einer überhängenden Nordwand, die schon beim bloßen Anblick Angst und Respekt hervorruft.

Der Biancograt hat in der Galerie der pittoreskesten Touren seit jeher einen Stammplatz: Wer hoch über dem Talboden scheinbar mitten im Himmel zu schweben scheint und sich, erleuchtet von zartrosa Alpenglühen, graziös in Richtung Gipfel des Piz Bernina schlängelt, ist wie geschaffen dafür, bewundert und in weiterer Folge beklettert zu werden. Mit anderen Worten: Wer den Biancograt sieht, der will hinauf, der will ihn machen.

Schönheit ist nicht alles

Diese Anziehungskraft hat im Fall des Biancograts aber auch einen gravierenden Nachteil. Einen Nachteil, den jeder kennt, der sich in den Sommerferien bei perfekten Bedingungen aufgemacht hat, um sich diesen alpinen Megaklassiker zu gönnen. Denn den Biancograt kann man nur in absoluten Ausnahmefällen alleine genießen.

Viel eher wird der alpine Hochgenuss von folgenden Begleitumständen getrübt: Sardinenzustände im Bettenlager der Tschiervahütte, dem  Ausgangspunkt der Tour. Dazu Lichtkegelgewirr durch unzählige Stirnlampen beim Abmarsch um halb drei Uhr morgens.
Dann Schritte vor dir, hinter dir, links von dir und rechts von dir auf der zu überwindenden Geröllhalde. Etwas später, der durch Seilschaften verursachte Eisschlag in der Eiswand. Weiters die im Tagesgang immer dichter werdenden Rotorengeräusche, der zum Einsatz kommenden Rettungshubschrauber. Und nicht zuletzt, die Unmöglichkeit die Kamera zu zücken und das unbeschreibliche Panorama vom Gipfel aus abzulichten, weil es dort meist zu eng ist, um sich überhaupt noch bewegen zu können.

Die Kunst des Wartens

Toni Moßhammer und David Greiner sind ja an sich sehr umgängliche Menschen, doch Teil einer Völkerwanderung zu sein, entspricht nicht unbedingt ihrer Vorstellung eines  alpinen Abenteuers mit hohem Erinnerungswert. Wenn sie dem Biancograt schon ihre Aufwartung machen, dann mit  Hirn samt Strategie, welche darin besteht, einfach einmal  abzuwarten. Abzuwarten, bis der Winter Einzug hält, abzuwarten bis die Tage kürzer und die Verhältnisse unwirscher  werden. Abzuwarten bis Wind, Wetter und niedrige Temperaturen die Gegend menschenleer werden lassen. Abzuwarten bis sich das Plaisierabenteuer Biancograt in eine alpine Challenge verwandelt hat.

„Die Challenge besteht darin, den Biancograt im Winter zu machen. Im echten, nicht im  meteorologischen.” Toni

Egal, ob man nach ihnen süchtig ist oder sie verachtet: Wenn es den Superlativen gelingt, ihre anspruchsvollen Versprechungen einzulösen, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als dazustehen und mit offenem Mund zu staunen.

Poleposition hat ihren Preis

Januar 2013: Es ist saukalt und die Tage so kurz, wie sie nur sein können. Ab vier Uhr nachmittags pflegt das Tageslicht, um diese Jahreszeit Dienstschluss zu machen und der Nacht die Bühne zu überlassen.

Toni Moßhammer und David Kreiner sind nach langer Fahrt aus Tirol  gerade in Pontresina angekommen. Es gibt keine Zeit zu verlieren, denn die beiden wollen unbedingt noch einen Blick auf den Grat erhaschen, bevor es zappenduster wird. Wie es da oben zur Zeit aussieht, konnte nämlich  keiner der im Vorfeld kontaktierten Informanten sagen. Aus einem  einfachen Grund: Keiner war kürzlich oben gewesen. Warum auch? Den Biancograt geht man schließlich in der Saison – und nicht im Winter. Zwischenresümee: Die Strategie scheint aufzugehen.

Um sich ein Bild von der Lage zu machen, müssen die beiden erst einmal zu der auf 2.573 m gelegene Tschiervahütte zusteigen. Doch diese liegt mehr als nur einen Katzensprung weit entfernt. Toni und David schnallen die Ski an, schultern die Rucksäcke und machen sich auf den Weg. Einen Olympiasieger und Weltmeister in der Nordischen Kombination als Spurmaschine zu haben, ist durchaus von Vorteil, vor allem, wenn man es eilig hat. David macht also die Pace und statt der üblichen drei Stunden dauert es dank äußerst sportlichem Tempo nur halb so lange, bis die beiden die völlig eingeschneite Tschiervahütte erreichen. Kein Licht, keine Fußspur, kein Rauch: Die Hütte war bereits vor Monaten eingewintert worden, niemand schien seither hier gewesen zu sein. Der letzte Eintrag im Hüttenbuch stammt aus dem Oktober des Vorjahres.

Die Tourenverhältnisse sind an diesem Tag nicht mehr auszumachen, denn der Biancograt hat sich mit Einbruch der Nacht in einen „Nerograt“ verwandelt und schlummert schwarz und nichtssagend unter dem besternten Nachthimmel. Einzig das Quecksilber des Außenthermometers zeigt sich im Stirnlampenschein auskunftsfreudig: Gemütliche zwanzig Grad unter Null. Was zu tun ist, liegt daher auf der Hand: Ab ins Warme.

Schweizer Hütten haben Vor- und Nachteile. Zu letzteren zählen die Preise. So werden für einen Liter Heißwasser (selbstverständlich ohne Teebeutel) nicht selten Preise bis zu sechs Euro verlangt. Positiv anzurechnen ist so manchem Hüttenwirt, dass er, quasi als Entschädigung für diese exorbitanten Preise im Sommer seinen Winterraum mit Ofen samt üppigem Holzvorrat ausstattet, wie das bei der Tschiervahütte der Fall ist.

Ein Angebot, dass Toni und David, durchgeschwitzt und fröstelnd vom Aufstieg, unmöglich ausschlagen können. Kaum eine Stunde ist vergangen, da hat sich der Winterraum in eine Schwitzkammer mit gefühlten 70 Grad Raumtemperatur verwandelt: „Wir saßen in den Unterhosen da und schauten dem Kleber zu, wie er von den Skifellen tropfte“, so Toni.

Zeitiger Aufbruch in die Kälte

Als der Wecker am nächsten Tag, dem 8. Januar, läutet, ist es draußen noch stockdunkel. Die Rucksäcke sind gepackt, die Ski stehen aufgefellt in der Ecke. Ein schnelles Frühstück, einige lauwarme Schlucke Tee und Abmarsch. Nur keine unnötige Zeit liegen  lassen: Im Hochwinter ist jede Stunde Licht kostbar. Kurz vor  sechs Uhr brechen Toni und David im Schein ihrer Stirnlampen  und bei Temperaturen um minus 20 Grad auf.

Die erste Etappe über den Tschiervagletscher zeigt sich sofort von ihrer widerspenstigen Seite. Eine Seite, mit der man es im Sommer kaum zu tun bekommt, denn da hat man an dieser Stelle eine problemlos begehbare Geröllhalde vor sich, die man bis zum Beginn des Gletscherfelds recht zügig marschieren kann. Nicht so im Januar, wo sämtliche Wege mehrere Meter unter dem Schnee verlaufen. Noch dazu hat es erst kürzlich geschneit und so wird dieses vermeintlich „leichte“ Anfangsstück zur regelrechten Tortur. Immer wieder brechen Toni und David durch den Harschdeckel ein, versinken bis zur Hüfte im grundlosen Schnee: „Erst brach David, der mit vollem Elan die Spurarbeit übernommen hatte, bis zur Hüfte ein. Dann kam ich und sank, dank 20 Kilo mehr auf den Rippen, in derselben Spur noch ein Stückchen tiefer.”

Anfangsschwierigkeiten sind nicht jedermanns Sache und haben schon in so manchem Rückzugsszenario gemündet. Für Toni und David sind sie weder überraschend noch unwillkommen. Genau  wegen dieser Challenge sind sie ja für uns im Hochwinter hier aufgekreuzt:
„Die Herausforderung bestand ja für uns darin, den  Biancograt im Winter zu machen.
Im echten, nicht im meteorologischen. Mit allem, was dazugehört.”

Die Akkus sind allerdings noch randvoll und die Oberschenkel nach der gestrigen Sauna-Session ausgeruht. So pflügt sich das Team voran, bis sich das Eis aufsteilt und die Ski am Rücken fixiert werden  müssen. Die 45–50 Grad steile Eisflanke befindet sich im guten, trittfreundlichen Zustand und wird schnell hinaufgelaufen. Zweieinhalb Stunden nach dem Aufbruch erreichen Toni und David die Fuorcla Prievlusa (3.430 m), jene Scharte, auf die der erste Felsteil folgt. Im Sommer stellt dieser Teil im dritten Klettergrad die  Gipfel-Aspiranten vor keine allzu großen Probleme. Jegliche  Schwierigkeiten wurden mittels Stahlkabeln und Trittleitern glatt ge-bügelt. Ein Umstand, den sich Toni und David nicht zunutze machen können. Überall liegt loser Schnee, der keine Trittfestigkeit besitzt  und erst mühsam vom Fels geputzt werden muss. Entsprechend problematisch ist auch das Klettern sowie das Anbringen von Sicherungen, das sich in Anbetracht der Bedingungen sehr umständlich gestaltet. Noch dazu ist es saukalt. O-Ton Toni: „Diese Passage war eine endlose Wühlerei und wir haben eine Menge Zeit auf diesen Metern verloren.“

„Wenn die Haxn nicht müde werden, dann arbeitet das Hirnkastl auch länger.“ Toni

Gehen auf der Linie

Erst Spurarbeit, dann mühsames Klettern über tief verschneites Felsgelände – bislang hat die  Operation „Biancograt im Winter“ zumindest in puncto Challenge gehalten, was sich Toni und David von ihr versprochen hatten. Sich mit den Herausforderungen des  Winterkletterns zu messen, ist schön und gut, aber zu dem einen oder anderen Bilderbuchmoment könnte sich ein  Alpenklassiker wie der Bianocgrat auch im Winter hinreißen lassen. Toni und David sind guter Dinge, doch in welchem Zustand sich der Grat befindet, wissen sie bis zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. Erst als sie den „Haifischzahn“, einen markanten Felsdorn am Ende der Passage erreichen, können sie einen ersten Blick auf das Kernstück der Tour, den namensgebenden Grat werfen. Und: Der Vorhang geht auf, der Bilderbuchmoment erscheint.

Egal, ob man nach ihnen süchtig ist oder sie verachtet:  Wenn es den Superlativen gelingt, ihre anspruchsvollen  Versprechungen einzulösen, dann bleibt einem nichts  anderes übrig, als dazustehen und mit offenem Mund zu staunen. Toni und David staunen daher nicht schlecht,  als sich der Biancograt in seiner ganzen Schönheit vor ihnen  ausbreitet. Doch ein echter Bergsteiger steht nicht mit  offenem Mund auf den Bergen rum, sondern geht auf sie hinauf. „Walk the line“, befahl der Instinkt. Trotzdem: „Von Zeit zu Zeit mussten wir einfach stehen bleiben, nur um  unserer Freude jauchzend Ausdruck zu verleihen. Kaum  zu glauben, dass ein Ort, an dem an schönen Tagen eine regelrechte Völkerwanderung stattfindet, auch so mystisch  und einsam sein kann.“

Nach einer euphorischen Dreiviertelstunde haben sie den Grat, der einen Mix aus blankem Eis, hüft- tiefem Pulver und perfektem Trittschnee bietet, hinter sich gebracht und den Piz Bianco (3.995 m), eine Art Vorgipfel des Piz Bernina erreicht.

Aber nach dem Grat ist vor dem Grat: Wiederum  bekommen es Toni und David mit einem Felsteil zu tun, diesmal der eigentlichen Schlüsselstelle der Tour. Auch dieser zweite Felsteil ist unangenehm zu sichern und zu klettern. Wühlen, Griff suchen, weiterwühlen. Toni übernimmt die Führungsarbeit  und erreicht als Erster den Piz Bernina. David folgt kurz darauf und um 13.30 Uhr stehen die beiden erschöpft, aber zufrieden unter einem perfekt blauen Himmel am Gipfel des Piz Bernina.

„Von Zeit zu Zeit mussten wir einfach stehen bleiben, nur um unserer Freude  jauchzend Ausdruck zu verleihen. Es war so irre schön da oben. Trotzdem brauchten wir für den Grat nicht länger als eine Dreiviertelstunde.“ Toni

Ein großartiger Moment für beide, der für David vielleicht noch ein wenig denkwürdiger ist,  denn der Biancograt ist seine erste größere, kombinierte  4.000er-Tour im Winter. Das Novizentum hat er sich nicht eine Sekunde anmerken lassen, wofür ihm Toni den größten  Respekt zollt: „Der David ist nicht nur saufit, sondern viel  wichtiger noch bei einer solchen Aktion: Maximal motiviert. Ich habe ihm nur einmal kurz gezeigt, in welche Richtung  es geht, und er ist abgezogen.”

Überlaufene Alpinklassiker im Winter zu machen, um seine Ruhe zu haben: Ein Konzept, das Zukunft hat? Eine alpine Beauty wie den Biancograt kann man nur in absoluten Ausnahmefällen alleine genießen, der tiefe Winter ist sicher einer davon. „Aber man darf nicht vergessen“, warnt der Bergführer im Toni „dass eine Tour im Winter unter gänzlich anderen Vorzeichen steht und mit ihrer sommerlichen  Verfasstheit so gut wie nichts gemein hat“.

Die Schwierigkeiten, die im Topo stehen, sind mit Vorsicht zu genießen. Eine Geröllhalde kann sich leicht in ein grundloses, schwer zu durchquerendes Schneefeld verwandeln. Ebenso kann ein gemütlich begehbarer Firngrat zu einer blanken Rutschpartie auf Messers Schneide werden. Mit schwierigeren Bedingungen werden auch die Anforderungen an Fitness und körperliche Widerstandskraft höher. Nicht jeder hat eine unermüdliche Spurmaschine als Seilpartner, nicht jeder, der sich auf einen Berg begibt, hat die Erfahrung eines Bergführers.

Fazit: Ein klirrend kalter Wintertag, ein Traumgrat, ein Gipfel  und ein Team das schnell hinauf und wieder heil herunter-gekommen ist: Besser geht’s nicht. Und so, wie es aussieht, wird der Biancograt nicht die letzte gemeinsame Aktion der beiden gewesen sein.


Fact Boxes:

Bianco Grat - Bernina Alpen, Graubünden, Schweiz

Ist: der vielleicht schönste Firngrat der Alpen
Wurde erstbegangen von: Paul Güßfeld, Hans Grass und Johann Gross anno 1878
Führt auf den: 4.049 m hohen Piz Bernina
Ausgangspunkt: TschiervaHütte (2.573 m)
Schwierigkeiten: Fels III, Eis 45–50 Grad
Begehungszeit: 9–12 Stunden (im Sommer)
Authorisierter Beiname: „Himmelsleiter“

Toureninfo Biancograt: Biancograt mit Topo

Toni Mosshammer
Wohnhaft in: Fieberbrunn, Tirol, Austria
Verbringt seine Zeit mit: Dem staatlich geprüften Berg- und  Skiführen und seiner reizenden Freundin
nicht authorisierter Beiname: Schee Tonei ...
Er hat: Immer gute Laune
Kann gut: Alles, was mit Bergen zu tun hat

David Kreiner
Wohnhaft in: Kitzbühel, Tirol, Austria
Verbringt seine Zeit mit: Dem Gewinnen goldener Medaillen in der nordischen Kombination.
z.B. bei den Olympischen Spielen in  Vancouver 2012 (Teamwettbewerb), bei der WM in Oslo 2011 (Teamwettbewerb), beim Weltcup in Chaux-Neuve 2011 (Einzelwettbewerb).
Authorisierter Beiname: Dave
Er hat: So viel Kraft in den Beinen wie zwei Güterzüge mit Volldampf
Kann gut: Nicht müde werden

Webtipp:

www.adidas.com/outdoor

www.rocknrollmountainguides.at

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