Hans Wallinger bei der Erstbegehung der Route Gang-Art (c) Johann Wallinger Hans Wallinger bei der Erstbegehung der Route Gang-Art (c) Johann Wallinger
08 Juni 2016

LOTRECHT GEDANKEN VERLOREN - Die Gang-Art des Hans Wallinger

Was auf den ersten Blick wie eine verschrobene Suchanzeige anmutet, entpuppt sich auf den zweiten Blick als präzises Lebensmotto. Von einem, der auszog, das Loslassen zu lernen.

Was auf den ersten Blick wie eine verschrobene Suchanzeige anmutet, entpuppt sich auf den zweiten Blick als präzises Lebensmotto. Von einem, der auszog, das Loslassen zu lernen.

Was war das für ein Sommer letztes Jahr? So reich an schönen Tagen. Ein Sommer zum Füße hochlagern? Mitnichten. Für den Wallinger Hans war es ein unruhiger Sommer. Ein Hochkogelsommer par excellence. So viele Linien und so viele Versprechen. Überall der Gesang der Sirenen. Auch oben in der Hochkogelwestwand. Unüberhörbar. Da musste was gehen. Etwas Besonderes! Und wirklich: da war sie. Plötzlich ganz klar vor seinem geistigen Auge. Eine kühne, eine letzte große, frei stehende Linie. Halb entdeckt, halb erfunden. Demütig und verbissen herausgelesen und hineinprojiziert in das Gestein.

Ende Juli ist sie befreit. Die „Gang-Art“ – eine Hommage an unser Zeitungsprojekt, aber auch ein Innehalten und eine Rückblick auf ein besonderes Kletterleben. 20 Seillängen alpine Sportkletterei – mit längeren Abschnitte im achten Grad, der – so betont der Erstbegeher – mehr oder weniger zwingend zu klettern ist. „Wo Hans Wallinger draufsteht, ist kein Hinaufschummeln drinnen?“ frage ich nach. Der Hans grinst – stolz und bescheiden zugleich.

Die Gang-Art, das ist eine richtige Bergfahrt, die schon wenige Schritte nach dem Parkplatz in der Schottergrube beginnt – mit einem senkrechten Klettersteig, der sich am Rand einer Wasserfallschlucht emporschwingt. Und es geht weiter – an Handseilen entlang und über steiles Waldgelände. Gute zwei Stunden Zustieg „zum Aufwärmen“, wie Hans meint, bis man dann direkt darunter steht. Unter diesem mächtigen Schild der Hochkogelwestwand, an der das Tennengebirge mit einem Schlag zu Ende ist und gut 1.000 Meter lotrecht abbricht, hinunter Richtung Salzachöfen.

Eine Wand und ihre Geschichten

Groß ist sie, die Wand. Und mächtig. Und für den Hans ist sie aufgeladen wie kaum eine andere. Ist sie doch Teil einer Geschichte, die dreißig Jahre zurückreicht – in eine Zeit, als er der „Lehrbua“ war vom großen Albert Precht, dem verrückten Hausherren vom Hochkönig. Und es scheint im Rückblick alles andere als ein Zufall, dass dieser „Lehrbua“ sein Gesellenstück just an dieser Hochkogelwestwand ablieferte; einer Wand, die so gar nicht im alpinen Rampenlicht stand. Abwegig damals genauso wie heute. Es war ein Sommertag im Jahr 1984, als dem jungen Hans Wallinger, ausgerüstet mit einem kurzen Seilstück für das Allerhaarigste in einer Route, die kaum eine Handvoll Haken aufwies, wo man dieses gebrauchen hätte können, die dritte Wiederholung der berüchtigten Precht-Linie „Schwarze Wand“ gelang. Allein und überdimensional ausgeliefert. Im Solo-Stil. Mehr oder weniger unbemerkt von der Öffentlichkeit. Und ehrfürchtig zur Kenntnis genommen von den eingeweihten Zeitgenossen.

Und dann kam er wieder. 20 Jahre und mehr als 100 Erstbegehungen später. Zufällig. Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will: „Ich wollte eigentlich eine Linie sanieren, aber dann fing mein Blick an zu schweifen. Und ich sah das enorme Potenzial dieser Wandflucht. Dieses Geschenk, das ich nicht ausschlagen konnte.“ – wie er meint. Und so ging es dem Wallingerhans wie dem passionierten Schwammerlsucher, der von einem Platzerl zum nächsten stolpert und sich am Ende im Wald verirrt. Das Verirren, das gehört beim richtigen Schwammerlsuchen ja eigentlich dazu. Oder vielleicht geht es ja genau darum! Etwas mit so großer Leidenschaft auszuüben, dass man alles andere vergisst. Weil man so sehr bei sich ist, so aufgeht in dem, was einem ausmacht.

Und so gab eine Route der anderen die Hand. Und anstatt ruhiger zu werden, wurde er flugs ein Getriebener. Ein Getriebener seiner Sehnsüchte, die sich mit jeder gelungenen Abarbeitung in der Lotrechten unter der Hand verdoppelten. Der Hans hat sich zwar nicht verirrt dort oben am Hochkogel. Aber er hat sich verloren. Genauso wie Jahre zuvor beim Drachenfliegen als er nicht mehr landen wollte. Und so konnte man ihn manchmal sehen, unter seiner Wand, im fahlen Licht eines zu Ende gehenden Tages, wie er da lag, der erschöpfte Hans, den Vögeln zusah, die über ihm kreisten, und kaum mehr wusste, wie er den Weg hinunter schaffen sollte. Ins Tal, wo längst zu Abend gegessen wurde. Sein Stirnlampenlicht wie ein nervöser Leuchtkäfer in der Dunkelheit.

Die Gang-Art als Statement

Und als langsam klar wurde, nach Jahren des Erspähens und Erschließens, dass das Potenzial dort oben nicht unbegrenzt war, entschloss sich der Hans, eine letzte große Linie über den Zentralpfeiler mit dem Namen unseres Projekts zu versehen. Und das nicht nur, weil ihm der Name gefiel, sondern auch, weil der Name zuweilen wie eine Signatur ist, die man dem Werk mitgibt. Das weiß der Hans; dass jeder beim Erschließen seine Handschrift hinterlässt, ob er will oder nicht. Und er weiß auch, dass Wiederholer vom Charakter einer Route auf die Person des Erstbegehers schließen – indem Sie Hakenabstände, Standplätze, Sanduhrschlingen, aber auch „Verhauer“ wie Satzzeichen lesen, die sich zu einem Statement zusammenfügen.

Im Falle der Route „Gang-Art“ ist die Erschließungsgeschichte selbst ein wesentlicher Teil dieses Statements. Irgendwann im Juni 2015 war der erste Bolt gesetzt und der Hans wieder in seinem Element. Die ersten Seillängen gingen flott von der Hand. Es lief gut. Bis der Hans plötzlich von der Vergangenheit eingeholt wurde und mitten in der Wand auf einem Band stand, das er von früher her kannte. Augenblicklich kam die Erinnerung zurück – an das Zögern von damals, und den Umweg, für den sie sich damals entschieden, der Albert Precht und er. Der alten Route folgen war keine Option. Und die neue verrückte Linie direkt hinauf zu den Dächern wählen – in diesem Moment – ebenso wenig. Zwei drei Versuche. Halbherzig Neuland erkundend. Zu groß die Sogwirkung des sicheren Stands. Und zu präsent die ethischen Vorgaben, um einfach den Akku-Bohrer herauszuholen, und dem Unbekannten damit ein unwürdiges Ende zu bereiten.

Es gab da etwas, das ihn abhielt – und es gab etwas anderes, das ihn verfolgte. Das wusste der Hans spätestens in dem Moment, in dem er wieder am Wandfuß stand und dann später im Tal und der Blick durch das Fernglas immer wieder um die Stelle kreiste, wo er umgekehrt war. Immer wieder die Dachlinien mit den Augen entlangtastend. Detailfotos vom Felsen minutiös vergleichend. Immer wieder hineinspürend in den, der er damals war, als er den Rückzug antrat und den, der das jetzt nicht mehr glauben, nicht mehr hinnehmen wollte.  

Das Warten auf den richtigen Moment

Und so verging die Zeit. Und so kam der Augenblick, an dem er bereit war, noch einmal alles hineinzuwerfen, was er hatte. Die ersten Seillängen wie in Trance. Dem Fokus hinterhereilend, der immer schon einige Meter über ihm wie ein Schattenhund die Wand hochhetzte. Bis er das Band erreichte, Atem holte, den Stand verließ und ins Neuland kletterte. Er endlich wieder dort war, wo er sein wollte, im Weiß des Unbekannten, Unbeschriebenen, dem er sich verschrieben hatte. Und irgendwie ging es weiter und weiter. Bis zum Dach, das sich wie von Geisterhand öffnete – hier ein versteckter Schlitz, dort eine unscheinbare Leiste, die auf ihn wartete. Plötzlich war alles da, als er mit Haut und Haar da war und hineinwarf, was er hatte. Und so turnte der Wallingerhans entlang seiner Möglichkeiten, über das Dach und seine Grenzen hinaus und weiter. Und wurde schließlich so reich beschenkt, dass es am Ende kein Halten mehr gab.

Mit einer Route, die nicht nur von der Linie her wunderschön und im nachhinein klar und logisch scheint – im nachhinein wohlgemerkt –, sondern auch vom Charakter etwas Besonderes ist. Die „Gang-Art“ verlangt den kompletten Kletterer: Risse, Verschneidungen, Überhänge, Wulste, Platten, perfektes Gestein und mitunter auch ein paar Splitterpassagen, wie sie zu einer Nordwand gehören, geben sich auf knapp 1000 Klettermetern die Hand.

Hans sitzt mir gegenüber am Tisch. Er wirkt ruhig und tatendurstig zugleich. Ich suche den Getriebenen, den er beschrieben hat und finde ihn nicht. Ob es das Alter ist? Irgendwann wird es kommen, das weiß er. Das wissen wir beide. Und dann wird er lachen und ich mit ihm. Und wir werden ihm die Hand geben und so tun, als wüssten wir nicht, wer vor uns steht.

Text: Wolfgang Tonninger, erschienen in der Gangart

Wolfgang Tonninger

Studium der Philosophie und Literatur. Autor an den Schnittstellen von Kultur und Technologie. Systemischer Coach und Organisationsentwickler. Bewegungshungrig. Felsverliebt. Mitbegründer und Chefredakteur der "gangart", Zeitung und Regionalentwicklungsprojekt im Tennengau. www.almblitz.com

Eine große Auwahl an Touren von Hans Wallinger findet ihr hier
 

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