Luis Stitzinger 24.5.19 am Gipfel des Everest 8848 m, im Hintergrund Makalu (8485 m, mi.) und Lhotse (8516 m, re.).  Foto: Stitzinger  – goclimbamountain.de Luis Stitzinger 24.5.19 am Gipfel des Everest 8848 m, im Hintergrund Makalu (8485 m, mi.) und Lhotse (8516 m, re.). Foto: Stitzinger – goclimbamountain.de
31 Mai 2019

Chaostage am Mount Everest

Bergführer Luis Stitzinger war an einem der beiden Chaostage am Gipfel und berichtet über Staus, den Mythos Everest, das Risiko und die richtige Taktik

Mount Everest – als Bergführer auf den höchsten Gipfel der Erde


Luis Stitzinger (50), Staatlich geprüfter Berg- und Skiführer aus Füssen  im Ostallgäu, kehrte vor wenigen Tagen von seiner Expedition zum Mount Everest zurück.  Der mit 8848 Metern höchste Berg unserer Erde befindet sich im Mahalangur Himalaya, exakt auf der Grenzlinie zwischen Nepal im Süden und China im Norden. Mit allen sieben Teilnehmern des Expeditionsveranstalters „Furtenbach Adventures“ aus Innsbruck erreichte er am 24. Mai erfolgreich über die Nordroute den Gipfel.

Nach 11 Todesfällen (Stand 28.5.) steht der Everest dieses Jahr abermals im Fokus des öffentlichen Interesses und vermehrt in der Kritik. Anders als 2014 und 2015 – die beiden Jahre der jüngsten Vergangenheit mit den meisten Opfern am Berg – als Lawinen 16 Climbing Sherpas im Khumbu-Eisfall, beziehungsweise 17 Bergsteiger im Basislager auf der nepalesischen Seite unter sich begruben, tragen dieses Jahr keine Naturgewalten die Verantwortung dafür. „Schuld ist schlicht und einfach ein sehr enges Wetterfenster von nur zwei Tagen – vom 23. zum 24. Mai – das in dieser kurzen Zeit für einen enormen Andrang am Berg sorgte“, berichtet Stitzinger.

Anders als in den Alpen ist für eine erfolgreiche Besteigung des Mount Everests nicht nur gutes Wetter erforderlich, sondern auch die Abwesenheit des „Jet-Stream“, einer atmosphärischen Ausgleichsströmung in acht- bis zwölftausend Metern Höhe, die mit einem Starkwindband für Windgeschwindigkeiten bis über 150 km/h sorgt. Dieses Starkwindband verharrte in der Frühjahrssaison 2019 ungewöhnlich lange über dem Berg, so dass an eine Besteigung erst Ende Mai zu denken war – kurz vor dem Ende der Saison und dem Beginn des Monsun (Anfang Juni).

389 Bergsteiger von Süden, 142 von Norden, plus nochmals dieselbe Anzahl an Climbing Sherpas und Bergführern zur Unterstützung,  macht sich an diesen beiden Tagen auf den Weg zum Gipfel, mit Konzentration auf den 23.5. An den Schlüsselstellen der Route, den „3 Steps“ der Nordroute oder dem „Hillary-Step“ und Gipfelgrat der Südroute, kommt es damit unweigerlich zu Staus, die für stundenlanges Anstehen sorgen können. „Die Gipfeletappe“, erklärt Stitzinger, „benötigt unter normalen Umständen etwa 8-10 Stunden Gehzeit im Aufstieg. Unter diesen Umständen kann sie sich zur Monsteretappe mit 14 Stunden oder mehr auswachsen. Das ist Wahnsinn!“

Auch unter Verwendung von künstlichem Sauerstoff kann eine derartig lange Verweilzeit auf einer Höhe von konstant über 8000 Metern tödliche Folgen für die Bergsteiger haben. Unterkühlung, Erschöpfung, Unkonzentriertheit können schnell zum Worst-Case-Szenario führen.

„Wir haben uns bewusst für den 24. als Gipfeltag entschieden, um dem größten Andrang aus dem Weg zu gehen, auch wenn das Wetter für diesen Tag schlechter vorhergesagt war“, sagt Stitzinger. „Das hat sich ausgezahlt. Wir waren alle zusammen vielleicht 30 Personen am Gipfel, als wir dort 5.30 Uhr bei Sonnenaufgang ankamen. Am selben Tag waren insgesamt 60 Bergsteiger am Gipfel. Staus haben wir keine erlebt“. Anders auf der Südroute, auf der der Ansturm der Bergsteiger an beiden Tagen für spektakuläre Bilder in den Medien sorgte.

Bleibt die Frage, warum Menschen viel Geld dafür bezahlen (eine „Classic“ Expedition mit 56 Tagen kostet bei Furtenbach Adventures 56.000 €, eine verkürzte „Flash“ Expedition mit 28 Tagen gar 96.000 €) und freiwillig ihr Leben riskieren, nur um eine halbe Stunde lang auf dem höchsten Gipfel der Erde zu stehen. „Der Everest ist ein Mythos“, meint Stitzinger nachdenklich, „für viele ist er ein Lebenstraum. Mich hat der ganze Rummel am Everest eigentlich bisher immer geschreckt. Nun, als ich dort war, konnte ich mich der Faszination des Berges selbst nicht entziehen. Bei Sonnenaufgang ganz oben zu stehen und die Welt so weit unter den eigenen Füßen liegen zu sehen hat schon etwas Magisches. Aber auch wenn wir mit viel Sauerstoff, Climbing Sherpas und Sicherheitstechnik das Risiko so gering wie möglich halten, ist das Ganze selbstverständlich noch immer nicht ungefährlich. Ist es das wert? Diese Frage muss sich jeder selbst beantworten – und die Antworten werden sehr unterschiedlich ausfallen.“

Daten & Fakten

Der „Everest“ wurde nach dem britischen Landvermesser George Everest benannt, dem "Surveyor General of India", Leiter der großen trigonometrischen Landvermessung Indiens durch die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts. Auf Nepali wird der Berg seit je her auch als Sagarmatha („Stirn des Himmels“), auf Tibetisch als Qomolangma („Mutter des Universums“) bezeichnet.

Die erste Besteigung des Mount Everest gelang am 29. Mai 1953 dem Neuseeländer Edmund Hillary und dem Nepali Tenzing Norgay als Teilnehmer einer großen britischen Expedition. Der Südtiroler Reinhold Messner und der Österreicher Peter Habeler waren die ersten Menschen, die den Gipfel am 8. Mai 1978 ohne Verwendung von künstlichem Sauerstoff erreichten. Über 8000 Mal wurde der Mount Everest im Laufe der Jahre bis zum heutigen Tag bestiegen, zu zwei Dritteln über die nepalische Südroute, zu einem über die tibetische Nordroute. Der Anteil aller übrigen Routen am Berg an der Gipfelquote beträgt weniger als ein Prozent.

Neun Gipfelerfolge an den höchsten Bergen der Welt sind Luis Stitzinger bereits geglückt, alle außer dem Everest ohne die Verwendung von Flaschensauerstoff: Cho Oyu (2000), Gasherbrum II (2006), Nanga Parbat (2008), Dhaulagiri (2009), Broad Peak (2011), Shishapangma (2013), Manaslu (2017) Gasherbrum I (2018).

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