in der langen Zustiegslänge (70°) in der langen Zustiegslänge (70°)
06 März 2017

Traumfrau und Diva

Eine anspruchsvolle Winterbegehung der Adamello Nordwand durch Silvan Metz und Martin Feistl

Eine anspruchsvolle Winterbegehung der Adamello Nordwand durch Silvan Metz und Martin Feistl

Liebe ist nicht oberflächlich, Liebe hat nichts mit dem Aussehen zu tun. Was das jetzt soll? Da muss ich ausholen: 1989 eröffnete Andrea Mutti in der Adamello Nordwand die großartige Tour „Hello woman of my dreams“. Als Martin von Alpinfabrik und ich durch Zufall von dieser unbekannten Wand hörten und ein Topo dieser Linie sahen war ich sofort verliebt in die „Traumfrau“. Dachte ich zumindest, doch die äußere Schönheit war trügerisch...

Schon am Parkplatz setzen wir das erste Mal auf die falsche Karte und entscheiden keine Ski mitzunehmen. Liegt ja wohl eh kaum Schnee. Eine gute Stunde später am ersten der drei Stauseen präsentiert sich als Panorama auf prachtvolle Art und Weise wie falsch diese Einschätzung war. Immerhin können wir einer alten Spur folgen, die uns einigermaßen erträglich zum Rifugio Garibaldi bringt. Martin ist ziemlich angeschlagen, immerhin hat er sich gerade eben erst von seinem Unfall im Schüsselkar erholt. Also lasse ich meinen Rucksack liegen und spure noch eine dreiviertel Stunde in Richtung Adamello, um für den nächsten Morgen vorzuarbeiten.

Im kleinen Winterraum schmelzen wir Schnee, trocknen die Schuhe am Kocher und entscheiden die Traumfrau morgen trotzdem um ein Date zu bitten. Um fünf Uhr reißt uns der Wecker aus dem Schlaf, ein Treck'n'Eat-Müsli später laufen wir schon los. Die Spur ist Gold wert, aber auch schon viel zu schnell zu Ende. Weiter geht’s durch die Hölle. Der Bruchharsch fühlt sich bei fast jedem Schritt nach einer tragenden Schneedecke an, nur um dann doch bis zum Oberschenkel durchzubrechen. Das ist so ziemlich das enttäuschendste Gefühl, das der Alpinismus zu bieten hat. Von der Schneedecke gefriendzoned. Wir bewegen uns in Zeitlupe, ich habe wenig Hoffnung dass wir noch in die Wand einsteigen.

Nix da, weiter geht’s

Es ist viel zu spät, als wir nach über vier Stunden am Bergschrund stehen, doch im unteren Teil scheint die Wand gute Verhältnisse aufzuweisen, perfekter quietschender Styroporfirn zieht im Zickzack bis zum großen Felsriegel. Unsere Lady wollte eben umworben und erobert werden, scherzen wir noch und Klettern los. Wir können das leichte Gelände ja immer noch gut abklettern.

Der Felsriegel ist fast komplett eisfrei, ich bin mir sicher dass wir jetzt doch einen Korb bekommen haben, doch Martin bindet sich ein und klettert einfach los. Das Gelände ist richtig schwer, etwa M7, doch einigermaßen absicherbar. Nach 30 Metern ist die Luft raus und Martin macht Stand. Ich folge über perfekt geschnittene Granitplatten. Monozacker und Eisgeräthauen verklemmen, wunderschöne Kletterei, aber eigentlich einen Schwierigkeitsgrad zu viel für so eine Wand. Die nächste Seillänge ist eine ebenso schwere Querung unter einem Überhang, bei der die Steigeisen nur auf kleinsten Granitkristallen stehen. Martin cruist wieder solide durch die Länge. Hier ist die letzte Möglichkeit unkompliziert abzuseilen.

Nix da, weiter geht’s. Es folgt eine coole Hangelschuppe und eine perfekte Piazverschneidung, dann führe ich wieder über ein Schneefeld, einen kurzen Felsriegel und ein weiteres Schneefeld. Der Felsriegel über uns sieht im oberen Teil sehr schwer aus, also muss Martin nochmal ran. Nach einer einfachen Eisrinne schlägt er am Beginn der Schwierigkeiten einen Haken, dann steigt er vorsichtig zwei Züge weiter und legt einen Friend. Noch etwas weiter fummelt er nervös eine Schlinge um einen stumpfen Felskopf und steigt dann auf diesen, um einen schlechten Haken zu schlagen. Die Schlinge ist schon vom Fels gerutscht. Ich stehe hochkonzentriert am Stand, die ganze Zeit bereit für den unbarmherzigen Ruck, der in dieser Situation einen verzweifelten Kampf ums Überleben einläuten würde. Drei Meter über dem Haken versperrt eine glatte Platte den Weiterweg ins rettende Eis. Martin schreit verzweifelt seine Angst heraus (was mir dafür umso mehr Angst macht) und überwindet die Stelle mit einem beherzten Ruck. Zum Stand ist es weit, ich muss meinen Stand auflösen und zwei Meter nachklettern.

Am oberen Stand lacht uns auf der linken Seite eine ziemlich logische Schneerampe an, die sich fortzusetzen scheint und einen schnelleren Ausstieg verspricht als die Originallinie. Die Traumfrau möchte wohl nur Freundschaft. Na gut, ich spure 70 Meter über die Rampe, Martin nochmal 60 Meter, dann wird das Gelände wieder felsig. Beim Klettern überlege ich schon unsere Variante „Let's just be friends“ zu nennen. Währenddessen geht die Sonne unter, Wolken ziehen auf und Wind setzt ein. Wir packen die Stirnlampen aus. Martin klettert 30 Meter M5, ich 35 Meter M4, dann folgen noch 55 Meter M3 und die senkrechte Gipfelwechte.

Im Nirgendwo auf 3500 Meter


Am Ausstieg will keine Erleichterung aufkommen. Ohne Handschlag oder Reden packen wir unser Material in die Rucksäcke und ziehen alles an was wir an Klamotten dabei haben. Es ist schon lange Stockdunkel, der starke Orkanwind peitscht den einsetzenden Schneefall in die Horizontale und wir stehen am Arsch der Welt auf 3500 Meter im Nirgendwo. Wir folgen kurz dem Grat, dann müssen wir auf den weiten Plateaugletscher. Die ganze Welt hat sich auf den kurzen, immer gleich aussehenden Kegel der Stirnlampe reduziert. Und auf den Kompass, der uns gerade das Leben rettet. Tief über die Magnetnadel gebeugt steuere ich drei Scharten an, die dritte erweist sich dann als richtig. Trotzdem bleibt natürlich ein ungutes Gefühl, einfach ins dunkle Schwarz abzusteigen.

Als die Rinne nach unten hin auf den nächsten Gletscher ausläuft beginnt die Navigationsarbeit von neuen. Ich kauere mich über den Kompass, Martin stapft meinem Seil hinterher durch die kalte Dunkelheit. Einige Male müssen wir wieder ein bisschen zurück, wenn haushohe Gletscherspalten den Weg versperren. Der horizontale Schneefall hat meine Wimpern vereist, ich kann nicht mehr blinzeln, dementsprechend brennen meine Augen. Nach einer Ewigkeit kommen wir an den Rand des Gletschers. Das erkennen wir daran, dass der Bruchharsch statt Knietief wieder Hüfttief ist. Der Kegel der Stirnlampe ist dagegen nach wie vor ziemlich unverändert: In der unteren Hälfte windgepeitschter Schnee, in der oberen Schneeflocken in der Horizontalen, die zu weißen Linien vor rabenschwarzen Nichts verschwimmen. Ich spüre so derart unmittelbar, dass wir uns jetzt nicht den kleinsten Fehler erlauben dürfen. Wir sind uns einig, dass unsere Varainte doch nicht „Let's just be friends“ heißen kann - mit Freundschaft hatte das nicht das geringste zu tun. Martin schlägt in Anlehnung auf eine Hubertour „Diva's Line“ vor. Ja, das passt besser.

Bildergalerie: Traumfrau und Diva, Adamello Nordwand

Umso größer die Freude, als wir auf Fragmente unserer Aufstiegsspur treffen. Sie war so tief, dass man sie immer noch erkennt. Nach einer weiteren Ewigkeit kommen wir um kurz vor ein Uhr nachts am Rifugio an, dass der Übersetzung „Zuflucht“ statt „Berghütte“ gerade deutlich gerechter wird. Wir waren 20 Stunden ohne Pause unterwegs. Martin fällt augenblicklich ins Koma, während ich noch einen Liter Wasser Schmelze und meine wirren Gedanken sortiere. Dann lege ich mich auch hin und entkomme im traumlosen Schlaf für einige Stunden der unbarmherzigen Realität.

Nur noch der Hüttenabstieg

Am nächsten Morgen wachen wir zu 40cm Neuschnee und unverändert starken Schneefall auf. Scheiße. Also wickeln wir uns wieder in unsere klammen Jacken und wühlen uns voran. Teilweise krabble ich sogar auf allen Vieren, um überhaupt vom Fleck zu kommen. Die Traumfrau zeigt uns mit aller Gewalt, wer das Sagen hat. Obwohl das „nur“ noch der Hüttenabstieg ist spüre ich, dass schon ein kleiner Patzer zu einer Situation führt, über die wir einen Bestseller schreiben könnten. Wenn wir dann noch schreiben können. Hochkonzentriert bewegen wir uns durch die unbarmherzige lebensfeindliche Welt. Der Wind peitscht laut, aber irgendwie auch entfernt gegen die verkrustete Kapuze der Hardshelljacke. Wir laufen in Trance, in Gedanken ganz woanders; an Südseestränden, bei anderen Menschen und natürlich bei der 300g-Tafel Schokolade, die im Auto liegt.

In solchen Situationen rekapituliert das Gehirn besonders gerne die schlimmsten Ohrwürmer. Joe Simpson („Sturz ins Leere“) wollte ja auch nicht zum Sound von Boney M sterben. Doch was mir diesmal durch den Kopf wummert sind zwei Zeilen eines Radiosongs: „I want my money back! - Let's just enjoy the show!“. Dass mein Ohrwurmzentrum grausam sein kann wusste ich ja, aber dass es einen derart sarkastischen Sinn für schwarzen Humor hat gefällt mir schon wieder.

Ganz langsam, aber beständig kommen wir voran. Am unteren Stausee trennen uns noch eineinhalb Stunden vom Auto. Martin kommt zu mir getorkelt und murmelt etwas von „...jetzt hat der Scheißberg uns aber langsam echt alles gegeben was er kann...“, worauf ich nur anmerke, dass es im Adamellogebiet frei lebende Braunbären gibt. Martins Gesichtsausdruck, unbezahlbar.

Wir teilen uns mein letztes Energiegel und beißen uns das letzte bisschen zum Auto durch. Fast schon unwirklich wirkt dieser blau lackierte Zufluchtsort. Nachdem wir die Schokolade geplündert haben folgt eine elfstündige Autoodyssee bis Augsburg. Der Berninapass ist dicht, am Malojapass müssen wir die oberen sieben oder acht Kehren rückwärts hochfahren, um ausreichend Last auf die Antriebsachse zu bekommen. Und ich muss Martin versprechen, so bald wie möglich Schneeketten zu kaufen.
Vor allem aber sind wir sicher, dass die äußerliche Schönheit der Linie „Hello woman of my dreams“ ziemlich nichtssagend war. Unter der hübschen Oberfläche versteckt sich eine launische, zickige und abgrundtief bösartige Diva.

Martin hat auf Alpinfabrik ebenfalls einen sehr gelungenen Artikel veröffentlicht - der die Tour nochmal aus einem ganz anderen Blickwinkel beleuchtet!

Facts Adamello Nordwand

Hüttenzustieg: 5h
Zustieg zur Wand: 4h (plus Vorarbeit am Abend vorher)
Wand: 10,5h
Abstieg bis Hütte: 4,5h
Abstieg zum Auto: 5h

„Hello woman of my dreams“: 435 Meter (6 gesicherte Seillängen) bis zur Abzweigung, M8, mehrfach solide M7, oft M5, Firn bis 70°, ein fixer Profilhaken
„Diva's Line“: 250 Meter (5 Seilängen), M5, oft M3-M4, Firn bis 60°, 90° Firn an der Austiegswechte, kein fixes Material

Unser Material: C3 #1 bis C4 #2, 3 Fichtel-, 2 Messer-, 1 Profilhaken, 1 Firnanker, 6 Expressen, 1 Alpinexe, Schlingen, 2 13er Schrauben (nicht verwendet)
Zusätzlich sinnvoll: Kleines Keilset, Hammer, einige lange Profilhaken, Schrauben nur für die Gletscher.

Beste Bedingungen gibt es wohl im Herbst und Frühling, aber dann ist's eben keine Winterbegehung :P

Text: Silvan Metz  

Pics: Silvan Metz und Martin Feistl

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